Wir sind Helden – Die Reklamation

Cover: Wir sind Helden - Die Reklamation
Cover: Wir sind Helden - Die Reklamation

Sie sind die musikalischen Aufsteiger der letzten Monate, eine Band, die nicht in zweitklassigen Fernsehshows zusammengecasted wurde sondern sich ganz schlicht auf einem Pop-Workshop kennengelernt hat. Damit bilden sie in zur Zeit wohl eine gewisse Ausnahme.
Vor einigen Monaten brachten sie als, dem Großteil der Hörer, unbekannte Band mit ihrer ersten Single „Guten Tag“ einen Song in die Charts, der die Kritiker hellhörig werden ließ, nachdem diese über der anscheinend ewig gleichen Konservenmusik schon scheinbar die Motivation verloren hatten. Nachdem „Guten Tag“ und der Ohrwurm „Müssen nur wollen“ von den Radiostation publik gemacht wurden, lag es jetzt am ersten Album der Berliner, die Vorschusslorbeeren zu rechtfertigen.

    Gruppe:
  • Judith Holofernes: Gesang, Gitarre, Konsumkritik
  • MarkTavassol: Bass
  • Jean-Michel Tourette: Keyboards, Gitarre
  • Pola Roy: Schlagzeug

Ostdeutschland und alles was damit in Verbindung gebracht wird war avanciert zur Zeit zu Kultobjekten, allerdings gibt es wenig was aus der Flutwelle von komerziellem Hype herausragt. Der Film „Good Bye Lenin“ gehört auf jeden Fall zu den Ausnahmen, weil das Team es verstand gekonnt Akzente zu setzen, anstatt den Farbeimer der 80er Renaissance einfach über der Gesellschaft auszuleeren. Ähnlich dem Stil des Films von Wolfgang Becker, falls es sich überhaupt so leicht vergleichen lässt, überzeugen „Wir sind Helden“ mit ihrem ersten Album „Die Reklamation“.
Im Prinzip könnte man eines auf jeden Fall als bezeichnend abstempeln – wer sich dieses Album als TV-Ersatz kauft hat auf jeden Fall eine gute Alternative gewählt, denn es enthält alles was uns das tägliche Fernsehprogramm auch bietet – vielleicht sogar besser. Die kritischen Texte von Frontfrau Judith Holofernes* greifen medienpresente Themen auf, und werden wortakrobatisch zu feinsinnigen Texten verwertet – oftmals so weitläufig, dass sich Ironie und feingestrickter Slapstick dem Hörer erst mit der Zeit entblättern.

Weniger tiefgreifend ist der musikalische Part der Komposition, zwar deckt man weite Bereiche ab, begnügt sich aber damit das Genre zu schrammen und nicht weiter darauf einzugehen – mit Ausnahme des Elektro-Pops, den man vorbildlich verkörpert. Ein bisschen Punk, ein wenig Rock und vielgriedriges Pop-Spektrum also. Wirklich ins Gewicht fällt das dann aber auch nicht – verkörpert man doch mehr einen künstlerischen, urbanen Sommer, der leichter auf dem Hörer liegt als schwere von viel Bass und Schlagzeug getragene Tiefkühl-Atmosphäre.

Zu den absoluten Ohrwürmern dieser CD zählen „Aurilie“ und „Müssen nur wollen“. Ersteres ist ein energiegeladener kleiner Seitenhieb auf eine französische Freundin von Judith Holofernes, die vergeblich nach einer Liebe Ausschau hält: Aurélie so klappt das nie – Du erwartest viel zu viel – Die Deutschen flirten sehr subtil. Kulturbedingte Verständungsprobleme auch schon bei Nachbarn.
„Wir müssen nur wollen“ – Wir können Pferde ohne Beine rückwärts reiten. Wir können alles was zu eng mit dem Schlagbohrer weiten. Diese beiden Songs sind ohne Zweifel die Eintrittskarte in das Album, weil sie durch ihre eingängige Melodie auch skeptische Hörer in die gedachte Richtung stoßen. Vielleicht zählt auch die etwas kritischere erste Single „Guten Tag“ noch dazu, weil sie bereits bekannt ist und dem Menschen vertraute Objekte helfen, sich in der Fremde zurecht zu finden. Revolution gegen die Werbung, den Einkaufswahn und den Übergriff der Medien auf den eigenen Verstand sind die Kernthemen des speedigen Popsongs – eine Kampfansage auf den Kapitalismus passt ins Bild einer sich nähernden Rezession.

Auch vor langsamen, lieblichen Stücken versteckt sich die Band, denn als wunderschöne Ballade fällt noch der Opener „Außer dir“ auch musikalisch positiv ins Gewicht.

Wortspielen reihen sich in „Die Zeit heilt alle Wunder“ aneinander, bei der die Sängerin sich beim texten zwar kreativ gibt, gesanglich aber einige Einbußen einstecken muss, wenn sie beim Balanceakt zwischen 80er Komerz und Neuzeit einen Schritt auf die falsche Seite macht. „Die Nacht“ hält sich textakrobatisch im selben, aber auf Ballade abgestimmten Stil: Mach die Lichter aus – nahmsweise mal nicht aus, Laß die Nacht doch rein – aus Vorsicht mal nicht rein.

Einen Schritt weiter geht man mit „Heldenzeit“ wo auch noch der Aspekt „Reime“ sich einschaltet Lassen sie uns durch, lassen sie uns durch wir sind Arzt und zu Wir kommen um die anderen Helden abzumelden – in einem Pressetext der Band „Wer schon einmal auf dem Einwohneramt einer Großstadt war, der weiß wieviel Warterei und Papierkram so eine Ab-und Anmelderei kostet.“ Ein Lied ist zu wenig, so naiv sind die Helden nicht.
Der Kathegorie „ein bisschen verrückt“ entspringen „Monster“ und „Rüssel an Schwanz“. Da hat es schon etwas von den frühen Sagen, in denen ein hübscher junger Prinz seine Herzdame erst vor einem gefährlichen Drachen retten musste – aber in wie weit können oder würden das die Männer von heute noch tun? welche Monster stehen ihnen im neuen Millenium gegenüber? Die eigene Meinung und das sich ausweitende Mitläufertum stellt „Rüssel an Schwanz“ in Frage.

Fazit: Haben „Wir sind Helden“ die Lobeshymnen verdient? – das liegt im Auge des Betrachters.
Ein musikalisch eher mäßiges Album bestärkt durch kritische Texte, Wortspiele und lyrische Akrobatik – außerdem profitiert man von einem – zur Zeit zwar übertriebenem – Hype, der gerade in Deutschland Einzug hält. Deswegen fällt es leicht einen Rahmen zu schaffen, in dem sich die Klangwellen der Reklamation besonders entfalten können – also machen sie es sich mit einem schönen Schichtsalat gemütlich und lassen den jungen Charme und den sprizigen Humor dieses Albums auf sich wirken.

[*Holofernes war assyrischer Feldherr und die personifizierte Gottesfeindlichkeit, dem Judith den Kopf abschlug. Nach Judith heißt wiederum ein Buch des Alten Testaments, sie gilt als Retterin der Juden. „Mit Vornamen heiße ich Judith, und mein Familienname ist nicht allzu weit von Holofernes entfernt“, sagt die Berlinerin. „Ich finde es lustig, diese beiden Feinde in einem Namen zu vereinen.“]

Wir sind Helden: 
Die Reklamation
Unsere Wertung: 80%
Die Reklamation 
wurde am 4. Juli 2003 
über Labels (EMI) 
veröffentlicht.
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