Deutscher Rock mit englischen Texten hat es bekanntlich schwer in der heutigen Medienlandschaft. Vor allem, wenn er dann auch noch in der progressiven Spielart daherkommt. Die meisten Radiostationen spielen ihn nicht, weil die Songs zu lang sind, um ausreichend Werbung, Verkehrsberichte oder nach ureigenster Meinung „voll witzige“ Wortbeiträge unterzubringen. Im Fernsehen hingegen wird man, wenn es um das Thema Rock geht, wohl noch in dreißig Jahren die gute Doro Pesch im Rollstuhl vorfahren, die Urne von Klaus Meine „Wind of Change“ pfeifen lassen oder Oli P. ermuntern, doch noch einmal zu erzählen, wie er zum Hardrocker und Mann wurde, weil er „Nothing Else Matters“ spät abends alleine im Dunkeln gehört hat.
Dabei würde es sich wirklich lohnen, gerade einer Scheibe wie dem zweiten Solo-Album des RPWL-Mitglieds Kalle Wallner mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Zeigt „Numb“ doch, dass Gitarrenmusik made in Germany nicht in den 80ern steckengeblieben, sondern sich dank ausgefeilter Nummern hinter den internationalen Standards Tool, Rush, Radiohead und Konsorten wahrlich nicht zu verstecken braucht.
Line Up:
- Kalle Wallner – guitars
- Paul Wrightson – vocals
- John Jowitt (bass
- Sebastian Harnack – bass
- Michael Schwager – drums
- Iggor Cavalera – drums
- Yogi Lang – backing vocals
Track List:
- Lost
- Guilt
- Numb
- Leave
- Death
- Change
- Seek
- Risk
- Torn
- Vow
- Change Reprise
Bei der Namensgebung haben Blind Ego offensichtlich gespart, dafür mit knapp 69 Minuten alles in langen Hörgenuss gesteckt. Laut Promoflyer sollen die Titel für die „extremen Gefühle stehen, die einen für kurze Zeit vollständig überfluten, vereinnahmen und nichts anderes neben sich zulassen. Man fühlt sich z.B. einfach nur verlassen, schuldig oder betäubt“.
Na, das wollen wir doch mal sehen. Also im Sinne von hören…und fühlen!
Lost – wabernde Soundspielerei, akustische Gitarre, es chillt an allen Ecken und Enden. Nach 48 Sekunden das erste herzliche Riff. It’s prog, baby! Die Stimme von Paul Wrightson (ex-Arena) schwebt angenehm über dem fein gewobenen Soundteppich. Noch kein schön vertracktes Gitarrensolo in Hörweite, refrainmäßig hat es ebenfalls noch Spielraum nach oben. Aber ein brauchbarer Start. Verloren ist hier noch rein gar nix.
Guilt – der Anfang schreit mir zunächst laut und deutlich Ballade ins Gesicht. Elektronisch verzerrter, einfühlsamer Gesang. Aber nix da: ein satte Riffabfolge pustet die Kuschelkulisse weg. Ab der vierten Minute lässt Kalle die Gitarre los, vor allem der sirenenartige Verzerr-Effekt hat es mir angetan. Schuldig im Sinne der Anklage gelungener Liedproduktion.
Numb – eine trickreiche Spielerei zwischen triolischen und binären Metren. Okay, das habe ich jetzt aus dem offiziellen Promotext abgetippt, um musikwissenschaftliche Kompetenz vorzutäuschen. In Wirklichkeit habe ich mir gedacht: hey, der Anfang klingt ein bisserl wie „Jambi“ von Tool, wie geil! Klassisch schönes Gitarrensolo, danach ein wenig Saitenhexerei, treibender Beat, majestätischer Refrain. Volle Punktzahl auf meiner Betäubungsmittelskala.
Leave – so, jetzt aber Ballade. Muss doch bei dem Titel. Der Anfang tendiert schon gut in die Richtung. Jawollja, beim Einsetzen der Gitarre geht einem doch direkt der Pack Tempotaschentücher in der Hosentasche auf. Große Kunst, große Gesangsleistung hinterm Mikro, so müssen Balladen sein. Ich lasse zwei ausgestreckte Daumen zurück.
Death – tja, den Track wollte ich mir eigentlich zum Schluss aufheben, quasi als Epilog, man weiß ja nie. Tot umfallen mitten im halb geschriebenen Review macht so einen unprofessionellen Eindruck. Fängt gitarrenmäßig hübsch vertrackt an, der Text geht arg ins Deprimierende. I’ve seen the end and there’s no light. Wird wohl kein Hit werden unter Wiedergeburtstheoretikern. Eine ruhige Nummer, die vor Spielfreude an den elektrischen Saiten strotzt und wirklich keine einzige Sekunde der knapp zehn Minuten langweilig wird. Wie es sich für guten Progressive gehört, wird gegen Ende Gas gegeben, um dann sanft auszuklingen. Sicherlich habe ich mich nach so mancher schwedischen Todesbleianmischung schon weniger lebendig gefühlt, aber erstens ist Totsein auch kein Gefühl und zweitens der Song richtig klasse.
Change – ausuferndes Bass-Intro. Der Gesang setzt nach zwei Minuten ein, als ich die Nummer schon als Instrumental eingeordnet hatte. Wie sehnsüchtig erwartet durchbricht ein fabelhaftes Riff die hier psychedelisch gehaltene Atmosphäre. Wieder ein begeisterndes Solo. Kommt als nächstes zur Abwechslung vielleicht mal ein schwächerer Song?
Seek – straight vorwärts marschierender Track, unkomplizierte Melodieführung. Geht aber ein wenig in der Klasse der vorherigen Songs unter, da der Refrain mich nicht ganz zu überzeugen vermag. Insgesamt solide Arbeit, die zeigt, dass Blind Ego auch anders können. Mehr aber auch nicht. Das kommt davon, wenn man selbst nach allerkleinsten Schwachstellen sucht…
Risk – nicht mal vier Minuten lang und damit die kürzeste Nummer. Ballade #2, Paul nur begleitet von der akustischen Klampfe. Wem es gefällt, an mir treibt es eher höhepunktlos vorbei. Kann man mit dem Vermerk „Risikolos können die Jungs also auch“ abhaken.
Torn – percussionlastiger Einstieg, gefolgt von angenehm rau eingeschrubbten Akkorden, in die sich hohe Gitarrenklänge mischen. Geht stellenweise sehr schön ab. Ich bin wahrlich kein sonderlich großer Instrumental-Fan, aber die Nummer reiße ich öfter gerne runter..
Vow – meiner Meinung nach der schwächste Song. Fängt gut an, lässt dann aber nach, weil die Gesangslinie für meinen Geschmack zu sehr neben der Melodie läuft. Kann mich fortan nicht mehr packen. In der Mitte ist mir zudem ein bisschen zu wenig los, da hilft auch das Aufbäumen gegen Ende nicht mehr. Aber ich schwöre, das ist der einzige Track, mit dem ich gar nicht kann.
Change Reprise – ich spüre, ich spüre… die Präsenz von Igor Cavalera (Sepultura) an den Drums. Und zwar dank meiner Fähigkeit, mitgeliefertes Promomaterial zu lesen. Der Mann ist zu Anfang doch leicht unterfordert und arbeitet sich auch später nur ansatzweise in gewohnte Geschwindigkeitsregionen vor. Meiner Meinung nach haben es Blind Ego gar nicht nötig, mit bekannten Namen zu prahlen, dafür hat die Truppe zuviel Klasse. Musikalisch ist das Ganze eine eher unspektakuläre Variante von Track #6.
Fazit: Hochklassiger Stoff für alle Freunde des gepflegten progressiven Rocks. Gegen Ende kann die hohe Qualität von Songs wie „Guilt“, „Numb“, „Leave“ oder „Death“ zwar leider nicht ganz gehalten werden, das trübt den hervorragenden Gesamteindruck aber nur unbeträchtlich. Fans von Kalle Wallners Hausband RPWL, die gerne etwas mehr Schmackes im Liedgut hören möchten, können natürlich blind zugreifen.