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Achim Reichel

Das Geheinmnisvolle der Ballade entpringt aus der Vortragsweise des Sängers (Johann Wolfgang von Goethe)

Foto von Achim Reichel
Foto von Achim Reichel

Die Loreley, der Erlkönig, der Nöck – alles alter Kram? Überhaupt nicht, wenn ACHIM REICHEL sich ihrer annimmt und mit seiner kernigen und markanten Stimme interpretiert. ACHIM REICHELs Trumpf ist seine Bodenständigkeit und das Vertrauen auf das eigene Gefühl. Und da erstehen Gedichte der alten Klassiker Goethe, Heine, Storm und Mörike in nullkommanix in neuem Glanz. Eingepackt in griffigen Rock und Melodien, die sich ruckzuck ins Herz und in die Ohren bohren. Kein Zweifel, Wilder Wassermann – Balladen & Mythen ist alles andere als irgendein deutschsprachiges Rockalbum.

ACHIM REICHEL, der einmal zu Recht als ‚Urvater aller deutscher Rockmusik‘ bezeichnet wurde, ist ein Mann mit Wurzeln. Und die liegen in der Nähe zum Leben, im Volksmund und in seiner Liebe für deutschsprachige Dichtung. Schon 1976 erschien sein erstes Solo-Album, das Shanty Alb’m, auf dem ACHIM sich einer der interessantesten Formen der Folklore annahm, dem Shanty, entstanden auf jahrhundertelangen Welt- und Erkundungsreisen fahrender Seeleute. 1978 legt er mit der Regenballade nach, auf der er Texte von Fontane, v. Liliencron, Arno Holz und natürlich Goethe mit musikalischem Leben füllt. Dann sind es Jörg Fauser, Peter Paul Zahl und Kiev Stingl, mit denen REICHEL Anfang der Achtziger zusammenarbeitet. Und auch später kann er es nicht lassen: Sein letztes Album Entspann‘ Dich (2000) enthielt einen Song mit einem Text von Erich Kästner, ein Lied von Robert Stolz – und nicht zuletzt ein Gedicht vom Kranführer und REICHEL-Fan Siggi Schreck.Auf Wilder Wassermann – Balladen & Mythen sind es spannende Geschichten, alte Mythen und unheimliche Begebenheiten, die ACHIM REICHEL erzählt. Da ist zum Beispiel Wilhelm Müllers Gedicht über Vineta, die sagenumwobene, verschollene Stadt in der Ostsee, sozusagen das Atlantis des Nordens. Oder es ist die Geschichte von Belsazar, dem babylonischen König, der seinem eigenen Hochmut zum Opfer fiel, spannend erzählt von Heinrich Heine, oder der von Johann Wolfgang von Goethe zu Papier gebrachte Erlkönig, das unheimlich-düstere Gedicht, in dem der Tod nach dem Kind greift. „Ich finde, es ist falsch zu sagen, Dichterkultur sei Upper Class-Kultur,“ so ACHIM REICHEL. „Gerade die Texte auf dem Wilden Wassermann beruhen ja auf alten Volksmythen, auf Geschichten, die über Jahrhunderte von Mund zu Mund gegangen sind. Ich will ja auch keine alten musikalischen Formen reanimieren, sondern etwas Neues daraus machen.“

Dass das gelingt, ist allemal der Musik zu verdanken, die sich stilsicher zwischen Pop, Rockmusik und folkigen Einflüssen bewegt. Da hört man irische Tradition, Cajun-Groove, ausgelassene Polka, tänzelnden Ska, und immer wieder blickt der Blues durch. „Ich betrachte den Wilden Wassermann auch als ein Weltmusik-Album,“ erklärt ACHIM. „Die Fiedel, die Mundharmonika, das Akkordeon, das sind ja alles nordeuropäische Instrumente, die schon vor Jahrhunderten in die weite Welt gefahren und dann irgendwann zurückgekommen sind. So ist ja die Mundharmonika in Norddeutschland erfunden worden, ging nach Amerika und kam dann als Blues-Instrument wieder zurück. Es ist auch kein Zufall, dass ich mit Musikern aus verschiedensten Ländern zusammengarbeitet habe.“ So kommt der Fiedler Pete Sage aus England (er pflegte höchstpersönlich die Instrumente des Fairport Conventions-Geigers David Swarbrick), Berry Sarlouis (Akkordeon) lernte sein Handwerk in seiner Heimat Holland, Multiintrumentalist Frank Wulff, der eine Vielzahl von authentischen Instrumenten wie Mandoline, Saz, Japan Banjo, Flöten, das Triton Muschelhorn u.v.a. bedient, ist ein alter Ougenweide-Folkrock-Kollege ACHIMs und mit Neva Brass hat er sogar ein fünfköpfiges Blasorchester aus St. Petersburg am Start. Aber auch ACHIM selbst hat sich musikalisch tief in die Materie gekniet und spielt neben allen Gitarren die Dobro, ein türkische 12-String-Banjo, eine portugiesische 12 String Laute, eine Hamburger Waldzitter, ein indisches Harmonium, eine Melodica und das E-Piano. Den Schlagzeug-Drive liefert Jost Nickel, und am Bass wummert Arnd Geise. Wilder Wassermann – Balladen & Mythen wurde in ACHIM REICHELs Hamburger Studio an der Susebek aufgenommen, von der Festplatte auf ein 24-Tracker übertragen und dann im Hansa-Studio in Berlin gemischt.

Trotz aller Tradition klingt Wilder Wassermann – Balladen & Mythen erstaunlich modern, gerade weil dieser bunte Instrumentenmix tief in ACHIM REICHELs Rockherz eingebettet ist und Spaß macht. Dabei wird die Spielfreude zur Hörfreude. Die schräge Gitarre zu Beginn der Walpurgisnacht unterstreicht den ausgelassenen Charakter des Hexenfestes, das dezente Arrangement von Der Reichtum und die Not schafft eine spannungsgeladene Atmosphäre. Die Loreley, wohl eines der bekanntesten deutschen Lieder, hat ACHIM kurzerhand von einem 3/4-Takt in einen 4/4-Takt verwandelt. „Erstmal musste ein 4/4-Takt her,“ beschreibt ACHIM die Entstehung seiner Version, „und da fiel mir auf, wie klasse eigentlich die Harmonien sind. Dann kamen die irischen Einflüsse und das Cajun-Gefühl dazu. Der Germane hängt eben nicht nur am Rhein rum, sondern hat mittlerweile die Welt gesehen.“

Die Idee, ein Album mit Texten deutscher Klassiker zu machen, geht nur bedingt auf das Shanty Alb’m und die Regenballade zurück, die ja auch schon ein paar Jahre zurückliegen. „Damals war ich mehr bauchgelenkt, während ich das heute schon etwas tiefgründiger sehe. Das Land ist wiedervereinigt, und es tauchen Fragen auf, wie zum Beipiel: wie gehen wir mit unserer Kultur um? Wo sind unsere Wurzeln? Ich finde, man darf die Beantwortung dieser Fragen keinesfalls den Rechten überlassen.“

„Ich erinnere mich an einen Irlandaufenthalt vor ein paar Jahren. Wir saßen in einem Pub, ein Ire spielte traditionelle Lieder und plötzlich reichte der mir seine Gitarre und sagte: ‚Sing us a song from your country!‘ Da ging mir der Arsch auf Grundeis, weil ich nicht wusste, was ich machen sollte. Das kommt daher, weil man als Deutscher in dieser Beziehung ein bißchen verkrampft ist. Wenn man deutsche Volksieder spielt, läuft man immer Gefahr, in die rechte Ecke gestellt zu werden. Aber es kann doch nicht angehen, dass 13 Jahre Naziherrschaft die ganze deutsche Kultur zerstören. Pete Sage hat zu mir gesagt: ‚Ihr müsst Euch Eure Kultur wieder zurückholen.‘ Und das sehe ich ganz genauso. Irgendjemand muss die Courage haben, die Kultur nicht irgendwelchen Verrückten zu überlassen. Ein Volk ist nicht komplett, wenn es keine Kultur hat.“

Die Textauswahl des Wilden Wassermanns führt ACHIM REICHEL zurück bis an die Anfänge deutscher, oder sagen wir ruhig ‚germanischer‘ Kultur, die ja den gesamten nordeuropäischen Raum betrifft und nicht nur das kleine Land in der Mitte Europas. Vineta in der Ostsee, Die Loreley am Rhein und der Mummelsee sind bis heute Wallfahrtsorte und Stätten historischer Feste. Und dass die Texte fast durchweg aus dem 19. Jahhrhundert stammen, ist durchaus kein Zufall, plagten sich doch auch Goethe, Storm und besonders der von den Nazis verfemte Heinrich Heine mit demselben Problem ab: Eine deutsche Identität zu finden, die frei von den Ketten der Machthaber ist und ihre Wurzeln sucht.

Wilder Wassermann – Balladen & Mythen ist gänzlich durchzogen von alten germanischen Mythen, die das Bewusstein und die kulturelle Identität hunderter von Generationen bestimmt haben und Probleme ansprechen, die uns auch heute noch betreffen. „Belsazar ist ein Gedicht über den menschlichen Hochmut,“ so REICHEL. „Diese Selbstüberschätzung ist wohl einer der größten Fehler, die der Mensch begeht. Bei Vineta war es eine Stadt, die durch Arroganz unterging, und wenn man sich die heutige Weltsituation betrachtet, könnte es das nächste Mal ein ganzer Kontinent sein. Mythologie ist die Urzelle aller Sagen, Märchen und Geschichten. Ohne die Mythen gäbe es keine Fiktion, keine Fantasy und auch keinen Harry Potter. Die Wortprofis, unsere alten Dichter, waren ja auch fasziniert von den alten Geschichten.“

Mit Wilder Wassermann – Balladen & Mythen schwimmt ACHIM REICHEL einmal mehr gegen den Strom. In einer Zeit, in der Fast Food und Plastik regieren, mit einer bodenständigen, weiterentwickelten Version des Folkrock aufzutauchen, die zudem noch die oft geschmähten Klassiker der Literatur bemüht, ist ein durchaus mutiges Unterfangen, zumal die Besserwisser hinter jeder Ecke lauern und auf mainstreamtaugliche Popmusik pochen. ACHIM: „Man muss wirklich aufpassen, dass man diese ganzen abgeschmackten, sogenannten goldenen Regeln möglichst alle missachtet. Wenn ich in meiner Karriere immer modischen Dingen hinterhergelaufen wäre, hätte ich schon längst mein Gesicht verloren. Daher habe ich mir gesagt, ich will Sachen machen, die mir auch etwas sagen. Es muss mich im Gemüt erwischen.“

Lehnen wir uns also getrost zurück und hören uns die alten Geschichten über Feen und Könige, Elfen, Geistern und Nixen an. Genießen wir die lebhafte und vielfältige Musik. Allein das Heraushören der Unzahl von eingesetzten Instrumenten garantiert schon eine unterhaltsame Zeit. Und bei ACHIM REICHELs lockerer Art, die Texte lebhaft und lebendig rüberzubringen, macht das Zuhören allemal Spaß. Der Wilde Wassermann löst Goethes Forderung nach einem ausdrucksstarken und beseelten Vortrag auch im Jahre 2002 ein. Die Seele heißt zwar nicht Soul – sie meint aber dasselbe…

:WEB: www.achim-reichel.de

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