Nachdem das bekannteste deutsche Musikreviewkomikertrio Wigger (Frisur: kritisch), Borcholte (Aussage: „Was ich nicht exklusiv höre, ist schon mal direkt scheiße“) & Dörting (Anspruch: unerreichbar und im Witze flach) die neue Nightwish nicht besprechen kann, muss ich also in die Bresche springen. Ich könnte das natürlich im Stil dieser Ikonen tun und die Geschichte erzählen, wie ich gestern bei meiner Hausbank 1, 2 und 5 Cent-Münzen abgeben wollte, dabei aber nur blöde Rollen bekam, die ich in meiner Beschränktheit auch nicht auseinandergepfriemelt, sondern nur jeweils die oberste davon gefüllt habe, was bei der Abgabe rauskam, wofür ich mich schämte und dann war ja Monatsanfang, entsprechend stand auf einem Schild, dass man zu dem Zeitpunkt eh kein Geld einzahlen kann und Nightwish hören eh nur noch Mädchen und Friseurinnen oder Blumenhändlerinnen mit schwarzen Fingernägeln. (Gesamtwertung: 2)
Aber ich möchte mich eher ernsthaft mit dem neuen Werk der Finnen auseinandersetzen. Nah dran am Klang. Mit eng anliegenden Ohren statt mit hoch getragener Nase. Deshalb hier meine Eindrücke zu jedem Song direkt nach dem ersten Anhören.
1.) Taikatalvi
Eine Spieluhr wird aufgezogen und es ertönt eine Melodie, zu der Bassist Marco Hietala auf finnisch singt. Noch Klavierbegleitung dazu, fertig ist das Intro. Erinnert mich ein wenig an die Songs von Trans-Siberian Orchestra.. Nur halt auf nicht auf englisch. Mein erster Gedanke: einstimmungsvoll.
2.) Storytime
Übergangslos in die erste Single. Meine Eindrücke dazu habe ich ja schon gepostet. Die Kurzzusammenfassung: nach mehreren Durchläufen gefällt es mir. Beim ersten Anhören hat mich die etwas zu hohe, ein wenig görenhaft klingende Gesangslinie irritiert (so als würde Pippi Langstrumpf oder eine verstörte Alice aus dem Wunderland bei Abba vorsingen, aber das ist wohl künstlerisch beabsichtigt und das Video bestätigt das ja auch), die Gitarre ist leider wieder nur reiner Rhythmusvorgeber und Solo gibt es auch hier keins. Dafür ist bei dieser Version der Kinderchor drin und ich hätte nie gedacht, dass ich das mal vor meinem 95. Geburtstag schreiben würde, aber der Kinderchor gefällt mir wunderbar.
3.) Ghost River
Gitarrist Emppu Vuorinen gibt den Ton an. Das freut mich direkt, denn auf dem letzten Album hatte ich das Gefühl, dass der Mann nur noch zum tiefgestimmten Riffschrubben angestellt ist. Jetzt darf er mit seinem Instrument mal die Melodie führen und tragen. Annette Olzon singt glockenhellig an und wird von Basser Marco scheinbar grundlos zusammengeschrien. Das alte Rollenspiel „Helle Stimme vs. dunkles Geschrei“ funktioniert wieder. Der Refrain bleibt hängen, das Orchester rummst, im Mittelteil schrubbt Emppu. Ein Kinderchor singt über das eigene Ertrinken. Schön morbide. Insgesamt sehr gute Nummer.
4.) Slow, Love, Slow
Nun wird es musikalisch loungig, lässig und verrucht. Oder schmoov, wie der des Englischen unfähige Musikfreund sagen würde. Es erwarten den geneigten Hörer fingerschnippende Finnen im Jazz-Club. Dazu ein ausgeprägtes Gitarrensolo. Ich schreib es jetzt mal knallhart hin: Frontfrau Annette kann singen. Wer das auch bei dieser Nummer nicht mitbekommt, soll sich mal vor den Spiegel stellen, seinen Versuch aufnehmen und auf YouTube hochladen. Ungewöhnlicher Track, der aber unter die Haut geht. Ich klebe ein „Das können die also auch“-Schild an den Song.
5.) I Want My Tears Back
Das wird die zweite Single – ich baue Stonehenge mit einem Schuhlöffel ab und wieder auf, wenn es nicht so kommen sollte. Erinnert mit seiner refrainigen Direktheit gleich zu Beginn an „Wish I Had Angel“. Natürlich lebt die Nummer von ihrem keltischen Flair, dem Dudelsackdingens und später der Fiedel. Ich gehe zum Plattenschrank, krame die „Wild Frontier“ von Gary „Gott-hab-ihn-selig“ Moore heraus und streichele über die Rillen von „Over The Hills And Far Away“. Sorry, aber mit der Mischung aus heftigem Rock und urigem Folk bin ich immer rumzukriegen. Ein lautes „YEAH“ von mir, als Emppu sich mit den Uilleann Pipes und der Fiedel duelliert. Gib’s ihnen, Emppu!
6.) Scaretale
Die Zirkusnummer des Albums. Fängt bedrohlich mit einem wirren Kinderchor an. Rammsteins Till Lindemann würde wahrscheinlich irgendwann sanft einen Vers über kannibalistisch veranlagte Föten schnarren („Brüderlein schmeckt lecker pur, fein schmeckt auch die Nabelschnur. Wohin, ja wohin führt sie nur?“), Nightwish schleppen stattdessen natürlich das Orchester samt Chor in die Manege. Wuchtig wird’s, Annette gibt vom Gesang her die böse Herzkönigin aus Alice im Wunderland, Marco lädt ein zur Clownnummer, bei der wahrscheinlich Tim Burton zusammen mit dem Trololo-Mann die schönsten Songs aus „Corpse Bride“ und „The Night Before Christmas“ aufführen. Ich bin mir sicher, die Jungs und das Mädel haben hier richtig viel Spaß beim Austoben gehabt. Ein herrlich abgedrehtes Stück, auf das man sich natürlich einlassen muss. Wer der reinen Nightwish-Lehre folgt, dürfte hier mürrisch-traurigen Blickes mit der Triangel in der Hand erstarren. Ich für meinen Teil mag Scaretale, denn es zeigt, dass die Band auch aus ihrem Rahmen ausbrechen kann.
7.) Arabesque
Instrumental mit viel Percussion. Würde prima auf jedes Album von „Two Steps From Hell“ passen. Wer die nicht kennt, unbedingt mal in „Invincible“ reinhören. Die Songs erkennt man fast bei jedem Filmtrailer im Fernsehen oder Kino. Orientalisch, bombastisch, zudem scheint Tuomas wohl auch mal in die letzte Blind Guardian („Wheel of Time“) reingehört zu haben.
8.) Turn Loose The Mermaids
Die nächste Ballade. „The Islander“ vom letzten Album ruft, denn es flötet auch hier wieder gar atmosphärisch. Entsprechend sehe ich vor meinem Auge weißgekleidete Isländerinnen auf schneebedeckten Berggipfeln stehen, die von Hubschrauberkameras umrundet werden. Mein Vorschlag, falls jemand vom Produktionsteam noch Inspiration für das Video zur dritten Single braucht. Kriegt sogar noch einen Western-Gringo-Touch im Soloteil und zum Schluss bringt uns die treue Fiedel nach Hause. Kann man sich nicht beschweren. Kuschelig wohlige Musik zum Träumen und Naturverstehen.
9.) Rest Calm
Der klassische Gothic-Song-Einstieg. Sicherlich gewidmet all jenen, die meinen, Nightwish wären Gothic und nicht Symphonic Metal. Da juckt es dem alten Fan in der Rüschenbluse, das waren damals schon paradiselostige Zeiten. Leider der erste Song, der mir nicht ganz so zusagt, obwohl der Beginn wirklich vielversprechend ist. Der Grund: der Bruch beim Refrain, wo sich das Lied nicht wie erwartet sehnsuchtsvoll dramatisch in die Tiefe stürzt, sondern in schmusig-säuselhaften Singsang verfällt. Der Kinderchor verstärkt diesen Eindruck auch noch. Natürlich ist das dann ausgerechnet der Song, bei dem Emppu ein Solo spielen darf. Das hätte man schwermütiger, brachialer, trauriger lösen können.
10.) The Crow, The Owl And The Dove
Das einzige Lied, das nicht von Tuomas Holopainen geschrieben wurde. Sondern von Bassist Marco Hietala. So sagt es mir das Booklet. Na, das dürfte jetzt ja eher saftig werden. Und es wird …noch eine Ballade. Zwar in Duettform, aber halt noch eine Ballade. Mit keltischer Flöte. Geht in Ordnung, aber ich will mal wieder meine Haare durchschütteln, bevor es morgen früh zum Friseur geht (ist wirklich wahr).
11.) Last Ride Of The Day
Den Anfang kennen Fans der Band bereits, dient er doch in der Remix-Version von DJ Orkidea als Einlaufhymne für den Sportverein Kiteen Pallo aus dem Heimatort von Hauptsongschreiber Holopainen. Hat alles, was ein Nightwish-Hit braucht: mitreißende Melodie, der Orchester und Chor mit auf die Reise nimmt; schön passender Gesang; einprägsamer Refrain und … ich habe es beim ersten Anhören wirklich gedacht… da müsste jetzt Emppu mal einen rauslassen, das bietet sich doch an und tatsächlich, fliegt kurz vor Minute 3 ein flottes Solo über die Saiten. Definitiv ein Highlight des Albums.
12.) Song Of Myself
Alles bereit für den Mammutsong, bestehend aus mehreren Akten. 13 Minuten und 37 Sekunden werden aufgerufen. Das hat Tradition, nun erwarte ich nichts Geringeres als den Aufbau und eventuell auch Einsturz epischer Klanggebilde. Klotzen halt, bis der Dirigent vor Schwäche vom Pult fällt. Es soll aber im Verlaufe der vier Abschnitte etwas anders kommen:
i.) From A Dusty Bookshelf:
knapp 45 Sekunden Intro mit Orchester, Chor und Riff
ii.) All That Great Heart Lying Still: etwas abbaeske Bridge zum Refrain, der komplett vom Chor getragen wird. Gut.
iii.) Piano Black: Übergang ins kernig Düstere, heavy Riffing, getragene Melodie, Wiederaufnahme des Refrains aus dem vorigen Part und zum Finale harte, mächtige Percussion.
iv.) Love: hier sind wir beim wohl kontroversesten Song des Albums. Nach dem ersten Anhören ist für mich klar: der „Song of Myself“ endet in Minute 6:54 mit einem sanften Fadeout. Denn was die restlichen knapp 6 ½ Minuten folgt, sind nur noch gesprochene Worte mit sanfter orchestraler Begleitung. Mag sein, dass Komponist Holopainen diesen Worten viel Wert beilegt, dass sie ihm viel bedeuten. Andere schätzen sie vielleicht gar als Poesie. Sorry, aber für mich zählt nur die Musik und dementsprechend ist dieses Ende schon so etwas wie ein Absacker, wo ich mir eigentlich noch etwas Großes erwartet hatte. Wenn Imaginaerum schon verfilmt worden ist, hätte man diesen Teil des Songs ohne Probleme als Abspannmusik verwerten können. So endet für mich ein durchweg gelungenes Konzeptalbum auf einer etwas schwachen Note. Immerhin waren Nightwish clever genug (anders als z.B. Manowar auf ihrem letzten Album), ihre gesprochene Poesie ans Ende des Songs zu verlegen, wo sie keinen stören, der sie nicht hören will.
13.) Imaginaerum
Etwas über 6 Minuten langes Instrumentalmedley, zusammengestellt von Orchesterleiter Pip Williams, das einen schönen Überblick über die musikalischen Themen des Albums gibt.
Fazit:
Das bisher abwechslungsreichste Werk der finnischen Symphoniemetaller. Sängerin Olzon liefert für meine Ohren eine engagierte, couragierte und insgesamt sehr gelungene Sangesleistung ab. Der Klimax fällt wegen „Love“ ein wenig flach, für manche eventuell sogar komplett weg, es hat vielleicht eine Ballade zu viel und meine Forderung von „Dark Passion Play“ namens „Mehr Soli für Emppu“ halte ich weiterhin aufrecht. Aber das Orchester und die rammsteinigen Riffs hauen rein, die Folkelemente bezaubern, die Mischung stimmt. Nach meinem Ersteindruck reicht es daher schon für eine Auszeichnung als CD des Monats.
Die Rezension gibt es auch im Weblog von Inishmore zu lesen.